Money, Money, Money

Ich bin ja gegenwärtig Thüringerin. Und so kommt es, dass ich am 1. September unseren neuen Landtag wählen darf. Na gut, nicht ich allein. Aber immerhin — ich nehme mein Wahlrecht ziemlich ernst. Was zu ernsthaften Problemen führt.

Noch nie hatte ich solche Schwierigkeiten, eine politische Entscheidung zu treffen. Der Wahl-O-Mat hat kaum geholfen. Also habe ich mich mit ein paar Parteiprogrammen genauer auseinandergesetzt.

Wenn ihr meinem Blog folgt, wisst ihr, dass ich gerade Vokabeln lerne. Denn als ich mit meinem Roman begann, bemerkte ich, dass mir wortwörtlich die Wörter fehlten, um ein Leben zu beschreiben, das nicht ein bloßes Überleben im Schatten der Depression ist. Sondern ein Leben, das sich frei in seiner Umwelt bewegt und mit Dingen in Berührung kommt, die weder seine Existenz bedrohen noch sichern. Ich habe immer nur in diesen beiden Kategorien gedacht und keinen Raum in meinem Kopf für harmlose, begreifliche Dinge gehabt. David ist handwerklich geschickt und hat einen Schrank im Flur, der bis oben mit Werkzeug vollgepackt ist. Inzwischen kann ich eine gewöhnliche Flachzange von einer Abisolierzange unterscheiden, und das macht mich ziemlich stolz. An diesem Punkt war ich noch nie.

Jedenfalls habe ich gerade bei meinen Recherchen den Begriff „Lohnabstandsgebot“ gelernt. Es solle wiedereingeführt werden, denn „das Bürgergeld, das eine Vorstufe zu einem bedingungslosen Grundeinkommen darstellt, steht diesem Leistungsgedanken klar entgegen“. Auf Deutsch: Wer so faul ist, dass er Sozialleistungen bezieht, soll das bitte auch zu spüren bekommen, und zwar täglich.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Wir, die wir in Deutschland leben, sollten alle einen Moment dankbar sein, dass wir einen Sozialstaat unser Zuhause nennen dürfen, der (noch) einspringt, wenn es eng wird. Das umfasst auch Wohngeld und Kinderzuschlag; etliche Leistungen, die zum Beispiel Familien mit geringeren Einkommen helfen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Diese enormen Ausgaben sind nicht selbstverständlich und sie kleinzureden, liegt mir fern. Ich weiß, dass ich in vielen Ländern diesen Beitrag gar nicht schreiben könnte. Das will ich voranstellen, denn darum geht es mir hier nicht. Wer mich kennt, weiß, dass es mir um Stigma geht — um die Art der politischen Instrumentalisierung.

Dass es Menschen gibt, die körperlich wie psychisch vollkommen gesund sind und nur keine Lust haben, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen, mag ich gar nicht bestreiten. Ich kenne keinen einzigen, aber ja, ich muss davon ausgehen, dass sie existieren. Das Stereotyp ist für mich der zockende Bub im Keller, zu dem die Mutter dreimal am Tag die knarrenden Treppenstufen hinabsteigt, um ihm Essen zu bringen, schmutziges Geschirr wegzuräumen und die Socken vom Boden aufzulesen, auch wenn sie sich kaum noch bücken kann — und er bekommt von alldem nichts mit. Oder das dickliche Pärchen, das längst die Schule abgebrochen hat und jetzt mit strähnigem Haar auf der Couch sitzt, schon vormittags Trash-TV glotzt und das Geld der Allgemeinheit für Kippen, Bier und Junkfood ausgibt. Das Bild der Hände aufhaltenden Migranten will ich hier gar nicht anfassen, das bräuchte einen eigenen Blogeintrag.

Doch gebetsmühlenartig dem arbeitenden, guten Teil der Gesellschaft weiszumachen, dass es sich dabei um die Mehrheit der Sozialhilfeempfänger handelt, bringt mich mal wieder in Rage. (Entschuldigt — das passiert mir inzwischen häufiger und ist laut meiner Therapeutin ein Indiz für meinen Heilungsprozess.)

Das klingt nämlich so, als wäre es irgendwie geil, kein eigenes Geld zu verdienen. Vertraut mir, das ist es nicht. Nichts daran. Und es will mir einfach nicht in den Kopf, warum der Glaube, der Bezug von Sozialhilfe würde die betroffenen Menschen mit Genugtuung und Seelenfrieden erfüllen, anscheinend weit verbreitet ist.

Da ich Partner und Familie habe, habe ich nie Bürgergeld empfangen, aber ich kenne beides: für zu wenig Geld zu arbeiten und keine Arbeit — nein, kein Einkommen zu haben, also vom Wohlwollen anderer abhängig zu sein. Beides fühlt sich erniedrigend an. Aber nicht auf dieselbe Weise. Von Geld, das mir „gegönnt“ wird, zu leben, finde ich demütigender, als mit wenig, aber eigenem Geld über die Runden zu kommen.

Warum?

Es geht um Würde. Und die haben — aufgepasst, folgender Hinweis könnte Sie verstören — Sozialhilfeempfänger auch.

Kurze Rekapitulation für Frischlinge: Lektor/in ist kein geschützter Beruf, das heißt, jede/r darf sich so nennen und sich, was Preise betrifft, fröhlich unterbieten. Aufgrund dieser Konkurrenz habe ich mich leidenschaftlich arm gearbeitet, bis ich einsah, dass mir das Missverhältnis von Leistung und Bezahlung nicht guttat. Darum habe ich mein Honorar angepasst, kurz bevor Corona, Energiekrise und Inflation um die Ecke kamen und die Leute noch weniger Geld hatten, das sie für meine Dienstleistung ausgeben konnten. Und der rasante Vormarsch der künstlichen Intelligenz gefährdet zusehends meinen gesamten Berufsstand. Das alles mit dem Mülllader ausgekippt auf meine chronische Depression, die mir Optionen raubt — und ich stehe vor dem Nichts.

Nein, nicht nichts. „In guten wie in schlechten Zeiten.“

Aber ich komme damit nicht klar. Es frisst mich von innen auf. Ich will meine Arbeit zurück. Meine Würde. Ich bin glücklich, wenn ich für das, was ich kann, bezahlt werde. Wenn mein Selbstwert mit dem von anderen in einem Grüppchen zusammenstehen und mitreden darf. Weil ich jeden Tag etwas beitrage, das irgendein Teil unserer Gesellschaft braucht. Weil niemand auf mich herabschaut und mich für einen Schmarotzer hält. Denn ich identifiziere mich nicht mit der, für die ich nun gehalten werde, auch im politischen Diskurs. Dafür habe ich mein Leben lang zu viel gekämpft.

Und wenn diese Zeit, dieser Traum von einem Job, den man liebt, für immer vorbei ist, will ich normal und gefolgsam sein. Früh morgens, die Aktentasche schwenkend, pfeifend und mit wippenden Schritten das Haus verlassen; dann abends, wenn ich heimkomme in mein aufgeräumtes Zuhause, meine strahlende Familie in die Arme schließen und mich über mein Tagewerk freuen, für das mein Chef mir vor Dienstschluss noch anerkennend auf die Schulter geklopft hat.

Stattdessen kramt David die Münzen in seinem Portemonnaie zusammen, als wir uns in seiner Mittagspause treffen und im Bistro Suppe bestellen. Mir schmeckt das Essen nicht. Aber das Bistro kann nichts dafür. Das Essen schmeckt nach gepfeffertem Scheitern, mit einer Prise Versagen. Morgen koche ich wieder selbst.

Was ich koche, entscheide ich danach, was der Discounter saisonal im Angebot hat. Ich kaufe Dinge auf Halde, wenn ich einen Coupon für sie finde. Seit einem Jahr habe ich meine zerzauste Mähne nicht zum Friseur getragen, weil ich für Erste-Welt-Probleme wie Spliss kein Geld mehr ausgebe. Wenn es heiß ist, kaufe ich den Kindern eine Kugel Eis, aber nicht mir. Wenn es kalt ist, lassen wir die Heizung aus und ziehen uns wärmer an. Ich trage dieselbe Kleidung, seit ich aufgehört habe zu wachsen, und teile sie inzwischen mit unserer 13-jährigen Tochter. Menschen lerne ich nicht über Facebook, Insta & co. kennen, sondern über Kleinanzeigen. Wir hatten keine Gäste auf unserer Hochzeit, und meinen 30. Geburtstag habe ich nicht gefeiert, so wie ich meinen 40. nicht feiern werde, weil mich der Druck lähmt, mit den Festlichkeiten unserer Bekannten mitzuhalten und nicht nur Käsebrot zu servieren. Wir machen Urlaub im Inland, und unsere Ferienwohnung hat keine Bettwäsche, nicht mal Betten für alle, sondern eine unbequeme Ausziehcouch — die wir abwechselnd nutzen, damit nicht nur einer Rückenschmerzen hat. Und wenn wir Ausflüge machen, kaufen wir den Kindern eine warme Mahlzeit und hoffen, dass es Reste gibt. Wenn Freunde essen gehen wollen, bestelle ich im Restaurant grundsätzlich nicht das, worauf ich Lust habe, sondern was am günstigsten ist — anders als die anderen ohne Aperitif, versteht sich, weil der mehr kostet, als ich für meinen Hauptgang ausgebe.

Solche Treffen initiiere ich aber lange nicht mehr. Weil ich mich nicht den immergleichen Fragen, nicht meinen Antworten aussetzen will, die mich schon selbst ermüden; keinen Blicken, die einfühlsam gedacht sind, aber eigentlich sagen: Mädchen, es muss sich doch irgendwann was bei dir ändern. Vor Kurzem zupfte mich eine Freundin, die mein Zögern spürte, am Ärmel und flüsterte, dass sie mir gern eine Kugel Eis ausgeben könne, wenn ich wolle. Das war aufrichtig von ihr, aber ich heulte an dem Abend aus zwei Gründen: vor Zuneigung, weil ich solche Gefährten habe, die mir kein materieller Reichtum je verschaffen kann, und weil es doch ein erbärmlicher Tiefpunkt für mich war, den ich nie erreichen wollte. Ich liebe meine Freunde und gönne ihnen alles Glück der Welt; trotzdem gehe ich inzwischen allein spazieren, um nicht bei jeder Unternehmung in Berührung mit der Dürftigkeit meiner Existenz zu kommen.

Und uns geht es noch GUT, das sind alles keine echten Probleme. Wir haben ein Gehalt, konnten mit den Kindern an die Ostsee fahren und wissen zumindest, wie ein Restaurant von innen aussieht, auch wenn wir immer öfter rückwärts wieder rausgehen.

… Aber was ist an Entbehrung geil?

Warum sollte man mit Höhenangst auf schmalen Graten balancieren, wenn man wirklich eine Wahl hat?

Wer fordert, dass Menschen, die jeden Tag um ihre Selbstachtung ringen, weil ihr Kampf nicht für andere sichtbar ist, deren Arbeitsfähigkeit durch Fibromyalgie, Depression oder PTBS eingeschränkt wird, noch tiefer in Armut versinken, irrt sich. Er irrt sich, wenn er sich vorstellt, dass wir morgens die Augen aufschlagen und uns als erste Amtshandlung selbst High five geben, weil wir ja FREI haben und nichts tun müssen, als uns von der Allgemeinheit aushalten zu lassen (die uns zum Glück total wohlgesinnt ist). Anschließend lachen wir uns ins Fäustchen, weil wir so raffiniert sind.

Was für ein Unsinn. Von früh bis spät über Geld zerbrechen sich am meisten die den Kopf, die keines haben. Die sich bei jeder Ausgabe schuldig fühlen. Und stets danke sagen müssen. Das ist zermürbend. Freiheit kann immer nur unsere eigene sein und niemals die, die von Stärkeren verhandelt wird.

Es ist erwiesen, dass Depressive, die sich umbringen, das oft nicht aufgrund ihrer primären Symptome tun, sondern aus der Überzeugung heraus, eines Mit-Lebens mit euch nicht mehr würdig zu sein.

Menschen werden nicht vermittelbarer, wenn man den Druck auf sie erhöht und fordert, dass sie ihr Gepäck schultern und um ihr Leben rennen — im städtischen Berufsverkehr zwischen hupenden Autofahrern, die wütend gestikulieren, während sie überholen. Sondern dadurch, dass man ihre Bedürfnisse anerkennt, statt zu verleugnen, und Strukturen schafft, die ihnen langfristig ermöglichen, zu arbeiten; entsprechend ihrer Qualifikation, statt Betroffene in Minijobs auszurangieren, für die sie weder Ausbildung noch Studium gebraucht hätten. Qualifizierte Arbeit muss es auch flexibel in Teilzeit geben, wir sind nicht alle Herzchirurgen. So könnte man einen ganzen Scherbenhaufen aufkehren und zerbrochene Selbstvertrauen reparieren.

Als ich alleinerziehende Mutter mit Baby war, gerade fertig mit dem Studium, wollte ich ein Verlagsvolontariat machen. Keiner war bereit, mich für weniger als Vollzeit einzustellen. Dann bewarb ich mich für unbezahlte Praktika – dasselbe! Die Dame bei der Agentur für Arbeit empfahl mir schon bei unserer ersten Begegnung einen Minijob. Das war der Punkt, an dem ich mich selbstständig machte.

Also, liebe Politiker: Bitte nicht nur nach unten treten, sondern auch dann ein Stückchen weiterdenken, wenn es bei euch im Kopf dunkel wird. Einfach mal tasten, ganz langsam voran, wie die blinde Kuh. Es wartet ein weites, ungeahntes Land auf euch, hinter euren populistischen Klischees.

Wenn ihr angekommen seid, dort, wo Angst und Scham leben, fühlt mal, wie es ist: euch nicht nur jeden Tag nach Würde zu sehnen, sondern auch Sorge zu haben, ob ihr euren Kindern bieten könnt, was sie brauchen. Was mit euch im Alter passiert. Wie lange eure Wachmaschine, euer Auto noch durchhält – oder eure Beziehung, wenn es keine Augenhöhe mehr gibt, sondern irgendwann nur noch gesenkte Blicke. Wie es ist, wenn die Erwartungen eurer Umgebung wie Pfeile in euren Körper stechen, um euch ewige Mahnung zu sein, dass Geduld begrenzt ist. Wenn euch jede Hoffnung fehlt, dass es irgendwann anders wird als heute; weil ihr endlich eine Arbeitsstelle gefunden habt, auf der ihr niemanden mit euren Bedürfnissen nervt. Wenn ihr nicht mehr wisst, wohin mit euch, weil ihr nicht tot sein wollt, aber auch nicht hier. Wenn ihr anfangt, selbst zu glauben, dass ihr mit der richtigen Einstellung alles könntet. Weil Parteien ihren Wahlkampf auf eurem Rücken austragen. Denn Wahlkampf ist die Zeit, in der sie sich an euch erinnern.

Das ist, wie wenn euch jemand Betonklötze an die Beine schnürt, euch ins Wasser schubst und dann, vom Ufer aus, mit verschränkten Armen und tippenden Fingern sagt: „Na komm, schwimm nach oben! Wir warten.“


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Ein Gedanke zu “Money, Money, Money

  1. Hallo du Naturtalent, Bücher schreiben solltest du unbedingt weiterhin,…das habe ich Dir schon einmal geschrieben. Ich kann mich so wiederfinden in deiner Depression. Sie ist auch Meine. Es ist vermutlich teilweise gesund, dieses Gefühl zu haben in einer so kranken Gesellschaft. Allerdings kann es auch sein, dass du zu einem nicht geringen Anteil an Menschen gehörst, die unter einer Stoffwechselstörung mit dem Namen HPU leiden. Die kann man nämlich mit ein paar Nahrungsergänzungsmitteln relativ gut behandeln (in vielen Fällen). Man sollte sich aber vorher ausgiebig darüber informieren und ab und zu seine Blutwerte kontrollieren lassen. HPUler sind i.d.R. hochsensible Menschen, die jahrelang nach den Ursachen für ihre psychischen & körperlichen Beschwerden suchen, am Leben kaum noch teilnehmen und von der Schulmedizin ignoriert werden. Die HPU ist eine Entgiftungsstörung, die auf einer fehlerhaften Hämsynthese beruht. Beim KEAC, dem niederländischen Labor für Umweltmedizin, gegründet durch den Biochemiker Dr. J. Kamsteeg, kannst du einen Online Test machen, um zu wissen, ob es überhaupt wahrscheinlich ist, dass du HPU hast. Der 24h Urintest kostet ohne Therapeut ca. 90 Euro. Als hochsensibler INFJ nicht krank zu werden in dieser wahnsinnig unmenschlichen Welt, ist fast unmöglich. Solange ich einen Sinn finde in allem Übel was mir geschieht, ist es erträglicher und es bekommt eine neue Perspektive. Du bist geliebt und behütet!

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