Luft und Hiebe

„Sometimes I sit alone under the stars
and think of the galaxies inside my heart
and truly wonder
if anyone will ever want to make sense
of all that I am.“

— Christopher Poindexter

Ich hatte nie gedacht, dass für mich jemand unentbehrlich werden konnte, der meinen Alltag noch verkompliziert. Doch das Leben wusste es besser, als es David vorbeischickte. Entsprechend kompliziert waren auch meine Gefühle. War David nicht da, konnte ich es kaum ertragen. Aber in seiner Nähe musste ich vor der Erkenntnis kapitulieren, dass er in meiner Welt nur spazieren ging und gewiss bald aus der Puste war. Allein schon ein Abendessen, irgendwo, bei dem man höflich zu sein hatte, bereitete ihm Freude wie eine Tracht Prügel. Mit Nachschlag.

David hielt sich auch von meinen Freunden so fern, wie es entlang des schmalen Grats zwischen dem, was ich verstehen konnte, und dem, was mich gekränkt hätte, eben ging. Er fand nichts reizvoll daran, belanglose Nettigkeiten auszutauschen, und dass er sich wirklich für das interessierte, was andere Leute so tun, war für David wie ein Sechser im Lotto — zu unwahrscheinlich, um darauf zu bauen. Und da er nichts als ungefilterte Ehrlichkeit vertrug, konnte er auch keinen Mittelweg beschreiten. Am Ende blickte also immer irgendwer betreten auf den Boden.

Ich erwartete nicht, dass er seine Marotten für mich ablegte und sich eine neue Haut überwarf. Ich hatte mit meiner eigenen alle Hände voll zu tun, da konnte ich kaum anfangen, Steine zu werfen. Und, zugegeben, es graute mir davor, in ratlose Gesichter zu sehen und erklären zu müssen, warum mein Freund — der, für den ich mich entschieden hatte — sich benahm, als würde er zum ersten Mal auf Menschen treffen. Wie konnte ich im Erdboden versinken wollen, wenn ich ihn liebte? Ich fühlte mich scheußlich. Illoyal. Aber David war mir eben nicht ähnlicher als mein Gegenteil. Er, der komplett ignorierte, was „man“ sagte oder tat. Der, statt behelfsweise vom Wetter zu reden, sei­ne astronomischen Kenntnisse teilte, ohne Punkt und ohne Achtung, ob das bei seinem Gegenüber auf Interesse stieß oder nicht. Der auch mal einen ganzen Abend lang schwieg, wenn er zu den Gesprächen nichts bei­zutragen hatte oder im Raum etwas entdeckte, das ihm spannender vorkam als unsere Gastgeber.

Kurz: Der Eindruck, den David meinen Freunden servierte, war ihm etwa so wichtig wie ei­nem Vegetarier das Steak am frühen Morgen.

Da ich ihn inzwischen aber anders sah als nur durch ein Glas Rotwein, ließ ich ihn abends durch die Wälder streifen, bis wir nachts wieder zu zweit waren und zwanglos und ich ohne Angst, dass sie uns für nicht bei Sinnen hielten, wie wir es doch selbst im Stillen taten. In seinen Armen fand ich die Gewissheit, dass er menschlich war; und er schien dann, und nur dann, so­gar glücklich darüber.

moon


Es gibt noch andere Planeten da draußen

Ich besuchte gerade meine Gastfamilie in Island, als mir David eine E-Mail schickte und mir erzählte, dass er einen deutlich erhöhten Autismus-Quotienten habe. Ich verstand nichts. Nichts von Autismus. Ich kannte nur den „Rain Man“, dem David nun wirklich nicht entsprach. Wie sollte das aufgehen? Und wie kam er darauf?

Dass David vor meinem Auftauchen ohne menschliche Fixpunkte durchs Leben gezogen war, war für ihn immer okay gewesen; auch, dass er mit seiner unverhüllten Art aneckte, war keine Tatsache, unter der er litt. Es fehlte ihm nichts. Menschen fand er ziemlich anstrengend, die meisten dazu unbelehrbar, was ihn frustrierte, bis er sich irgendwann für Gleichgültigkeit entschied. Ansonsten hielt er sich für weitgehend normal. Doch seit er mich kannte, war das anders; seit er bemerkte, wie ich — obwohl introvertiert und scheu — Gesellschaft und Nähe brauchte. An meiner Hand hatte er rea­lisiert, dass ihn seine Art zu denken und zu empfinden, auch, die Welt zu beurteilen, nicht nur von denen, die ihm egal waren, sondern auch von mir, seiner Freundin, unterschied. Erst auf dieser wackeligen Brücke zwischen Lieben und Verstehen wurde er das Gefühl nicht los, einsam un­ter Menschen zu sein, die alle auf eine Weise kommunizierten, der er nicht folgen konnte. Am schwierigsten fand er, wenn etwas nonverbal ablief. Gesten, Mimik; all die Nuan­cen, die wir intuitiv begreifen, standen für ihn in einem verschlossenen Buch. Dass er in ihren Gesichtern selten erkannte, was sie mitteilen wollten, machte Menschen für David undurchschaubar, und sie wiederum fühlten sich von seinem Verhalten provoziert, das wenig Rücksicht auf sie nahm. Von Davids Stirn sprang mich oft ein Fragezeichen an, wenn ich ihn mit dem Ellbogen anstieß, weil er mal wieder unhöflich war; wenn er soziale Ge­setze missachtete, die unausgesprochen existieren.

Die Angst, dass eine Suche nach Seinesgleichen — nach denen, die ihn nicht sonderbar fanden und erwarteten, dass er sich anpasste — immer vergeblich bleiben würde, setzte David zu.

Ich begann, im Internet zu recherchieren, und stieß endlich auf Erklärungen; sogar, warum David große Probleme hatte, Ironie zu erkennen, und fast ausnahmslos alles wörtlich nahm. Schon bei unserem ersten Treffen war er zusammengezuckt, als ich von meinem Herz­blut sprach; bis er begriff, dass er dieses Bild als Symbol deuten musste. Typisch war für David auch, dass er sich stundenlang auf dieselbe Sache kon­zentrieren konnte, wenn sie sein Interesse entfachte, doch kaum je Anteil am Leben anderer nahm. Irgendeine Gefühlsregung, die nicht unmittelbar zu ihm gehörte, fand er künstlich; nichts als höflich. Und höflich heißt, nicht echt.

Alle Parallelen zwischen seinen charakteristischsten Zügen und denjenigen von Asperger-Autisten nahm ich folglich zur Kenntnis, jedoch nicht allzu ernst. David konnte scheinbar gut leben, und ich gut mit ihm. Ja, er fiel auf. Aber er log mich nie an, schon weil er gar nicht in der Lage dazu war, es halbwegs überzeugend zu tun. Ich mochte auch, wie oft er mir neue Perspektiven aufzeigte; einen anderen Blick auf das, was in unserer Gesellschaft „normal“ ist, in der sich ausgerechnet die Menschen therapieren lassen, die sich Gedanken machen und an Ungerechtigkeiten verzweifeln, statt ihre Augen zu verschließen. Und dass David nur selten Sinn für Sentimentales zeigte, fand ich nicht tragisch. Mir waren kniende Ka­valiere mit Rosen zwischen den Zähnen schon immer eher suspekt. Statt Blumen schenkte David mir Drucke von Galaxien; ohne zu ahnen, dass er mit seinen Einfällen unserer Beziehung genau so viel Romantik einhauchte, wie ich brauchte. Ich dachte, wenn er ein Bewusstsein für sich entwickelte und im sozialen Ge­strüpp noch ein Stück an meiner Hand ging, stünde unserem Glück nichts im Wege.
Aber was wusste ich schon.

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