Marry Christmas

Ob dieser Tag jemals kommen würde, wusste ich nicht, und ich dachte auch selten darüber nach: David wollte heiraten. Und als INTJ, wie er im Buche steht, noch im Dezember. Denn es wäre ja idiotisch, auf den steuerlichen Vorteil eines ganzen Jahres zu verzichten, wenn man sich so eine Heirat schon antut.

Das muss diese Romantik sein, von der alle reden.

Solch eine Szene …

… hat es bei uns natürlich nicht gegeben. Herrlich, die Vorstellung – aber, nein. Was von mir als eine Art Antrag gedeutet werden konnte, röchelte er vor ein paar Jahren, als ich an seinem Krankenhausbett saß. Die Ärzte hatten mir gesagt, dass er tot gewesen wäre, hätte er nur 30 Minuten später im OP gelegen. Blinddarmdurchbruch, vereiterter Bauchraum, Sepsis. Das lässt auch einen INTJ nicht kalt. Denn zwei Tage davor war David ein ziemlich lebendiger Typ Ende zwanzig gewesen, der nie krank war. Dinge ändern sich.

„Wenn ich das überlebe, dann heiraten wir.“ – Und ich glaube tatsächlich, dass er in diesem Moment nicht an Steuern gedacht hatte.

„Na, jetzt stellen Sie sich mal nicht so an“, kommentierte der behandelnde Oberarzt, der sozusagen mit seinem Namen für Davids Überleben bürgte. Dass dieser nur einer Magensonde entkam, weil ich auf sein Flehen hin sein Erbrochenes entsorgte, bevor die Schwestern es entdeckten, schien also nur Indiz für Davids ausgesprochene Sturheit zu sein und nicht für seinen bevorstehenden Tod. Zumindest nicht mehr.

Jetzt, in der Gegenwart, war das mit den Steuern anders. Wegen der miserablen Auftragslage ist mein Jahreseinkommen auch mit Lupe kaum sichtbar. Und, so Davids Argumentation, darüber hinaus würde sich an unserem Leben ja absolut nichts ändern.

War das so?

Ich fand mich in der befremdlichen Situation wieder, in der David heiraten wollte und ich mir nicht sicher war, ob es mir auch so ging. Obwohl er doch völlig recht hatte. Wir wohnten zusammen, hatten zwei gemeinsame Kinder, kannten uns seit 14 Jahren. Nach einer Hochzeit würde uns mehr Geld zur Verfügung stehen. Warum also sollte ich zögern?

Als wir zusammenzogen, merkte ich, dass in meiner Brust ein zweites Herz gewachsen war. Ich hatte eines, mit dem ich liebte. Und eines, das schwer war, weil es sich an alles andere erinnerte. Dieses Herz schlug ebenso fest. Und es stellte mir die Frage, ob nur Liebe ohne Brüche die Ehe schließen darf. Liebe, die über alle Zweifel erhaben ist. Aber gehörten diese Gedanken zu mir? Oder nur zu meiner Schwester und ihrem Mann, die mich per E-Mail zur Persona non grata erklärten, weil ich einen Mann heiraten wollte, der mir in der Vergangenheit wehgetan hat?

Seit der Uni liebte ich David. Seit ich ihn in einer Vorlesung um einen Kuli bat und er mir seinen Pulli geben wollte. Seit er mit mir schaukeln ging, nachts, im Dunkeln, wenn uns keiner zusah. Seit er mir nie Blumen kauft, aber welche pflückt, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs ist. Seit er immer grinsen musste, wenn er mich lange nicht gesehen hat. Seit er mir Lasagne kochte, und danach nie wieder. Ich liebe, dass er nie zuerst loslässt, wenn er mich umarmt. Ich liebe, wie sicher er sich ist, dass wir zusammengehören, und mir das sagt. Ich liebe, wie er mir Dinge zeigt, die ich können sollte, ohne die Augen zu verdrehen. Ich liebe, dass er sich um mein Windows kümmert, obwohl er nur Linux mag. Wer ihn kennt, weiß, was das bedeutet.

Und ich fürchte diese Liebe. Seit er sie nahm und ging. Die Erinnerung drückt mich nieder, wenn die Kinder lachen und frei sind und ich glaube, alles ist gut. Wenn die Kinder schreien und sich streiten und ich warte, dass er es nicht mehr aushält, mich anfährt und mir vorwirft, sie existierten nur wegen mir – obwohl er das nie tut. Wenn er unsere Große nicht so fest in den Arm nimmt, wie sie es braucht. Wenn ich die Haustür aufschließe, kurz bevor sie sich öffnet. Wenn das Handy in meiner Tasche klingelt. Wenn er sagt, er muss mit mir reden.

„Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“, schreibt Kurt Krömer. Ja, da ist Wahres dran. Aber auf was kann ich mich dann verlassen?

Ich entschied mich für die Beständigkeit. Dass er in den vergangenen Jahren genug Gründe gehabt hätte, aufzugeben. Kehrtzumachen. Und wir trotzdem kämpften. Miteinander, nicht gegeneinander. Dass er jeden Tag zu mir nach Hause kam, auch als ich an Depressionen litt. Dass er unseren Kindern heute jeden Tag ein Vater ist, auch wenn er nie einer hatte sein wollen. Dass er mir geduldig hilft, meinen Weg zu finden, seit ich von meinem Beruf nicht mehr leben kann. Weil manchmal unser einziger Konsens war, dass wir mit achtzig auf einer Parkbank sitzen und unsere faltigen Gesichter in die Sonne halten wollten. Gemeinsam. Hand in Hand.

War das naiv? Kontraintuitiv? War ein Zweifel schon einer zu viel?

Wer weiß das schon vorher. Ich war in meinem Leben drei Mal Trauzeugin. Die Ehe, die nicht hielt, war die ohne bewegte Vergangenheit.

Als wir unsere Eheschließung anmeldeten, gab uns die Standesbeamtin ein dickes Buch mit nach Hause. Darin wurde uns nahegelegt, mit den Vorbereitungen für die Hochzeit 12 Monate vor der Vermählung zu beginnen. Wir fanden darin auch eine Checkliste über 28 Seiten, was alles zu tun war. Wir konnten nicht anders, als zu lachen. Uns blieben wenige Wochen und das Standesamt unserer Stadt stand uns auch nicht zur Verfügung, da es für den Rest des Jahres ausgebucht war. Bis auf einen Termin, für den David wegen der Arbeit nur seine Mittagspause gehabt hätte, was sogar für ihn zu wenig schien.

Da es David ziemlich egal war, wo wir heiraten würden – und wir inzwischen auch noch alle Corona hatten, was die Organisation nicht einfacher machte -, entschied ich mich (wir wohnen in Thüringen) für ein Standesamt im Erzgebirge, nahe der tschechischen Grenze, relativ schneesicher und mit einem hübschen Weihnachtsmarkt. Gäste würden wir eh nicht haben, was uns auch ganz lieb so war, für so einen persönlichen Moment. Aber wenn es im Dezember schon kalt sein würde, dann sollte es für uns schneien und nicht regnen. Ich liebe Schnee, obwohl ich nicht gern friere. Aber er befriedet was in mir. Schneefall beruhigt mich, entstresst mich. Und da wir im Tal leben, wird auch den Kindern die Freude selten zuteil, ihre Eltern mit Schneebällen zu bewerfen.

Auch bei der Musikauswahl war David für mich das Gegenteil einer Hilfe. Das Standesamt hatte uns zwar einige Titel zugesendet, doch entweder assoziierte David mit den Stücken irgendwas (zum Beispiel denkt er bei der Titelmelodie von Forrest Gump an „Du bist Deutschland“), oder die Stücke waren für eine Hochzeit einfach völlig unbrauchbar. Wer heiratet bitte zu „Candle in the Wind“ – dem Lied, das die Welt sogar zweimal vor Trauer kollektiv zum Heulen gebracht hat – oder „You’re beautiful“ von James Blunt – ein Lied, in dem es um einen Stalker geht, der sich aufgrund von unerwiderter Zuneigung am Ende umbringt? Ich dachte ja, uns fehlte jeder Sinn für Romantik (etwa, als David und ich den Ring an meinem Finger betrachteten, den er mir vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und uns einig waren, dass der auch als Ehering taugt).

Ich suchte mir das Kleid aus meinem Schrank, das annähernd weiß war. Da ich am Tag vor unserer Abreise mit der Kleinen allein zu Hause war, fragte ich sie, wie sie es an mir fand, und sie war einverstanden. Das musste mir genügen. Die Große war über Nacht bei ihrem besten Freund und David hunderte Kilometer weg, um ein Bad zu sanieren (eigentlich ist er Biophysiker) und seinen Ring abzuholen, den sein Stiefvater für ihn, passend zu meinem, geschmiedet hatte.

Nach vier Wochen anhaltenden Schneefalls begann es zur selben Zeit im Erzgebirge zu tauen und zu regnen. Ich weiß nicht, wie ich das mache, aber jedes Mal, wenn ich Winterurlaub buche, weicht der Schnee von mir, noch bevor ich dort bin. „Das ist uns hier seit Jahren nicht passiert“, höre ich dann immer. Wundervoll.

Aber, was solls. Immerhin hatten wir kein Corona mehr. Nur die Kleine begann am Tag vor unserer Hochzeit wieder zu schniefen, aber das war typisch für den Winter. Wer gesund in die Kita geht, kommt krank wieder heraus. Es lief schon Notbetreuung, weil das auch für Personal gilt.

Auf dem Weg ins Erzgebirge bekam ich meine Tage. Das erste Mal seit fünf Jahren! Mir war vor einiger Zeit schon die Spirale entfernt worden und als ich meinen Arzt gefragt hatte, wann ich denn wieder damit rechnen musste, konnte er dieses Ereignis leider nicht auf den Tag vor meiner Hochzeit datieren. Er blieb vage.

Alles kein Beinbruch. Aber sogar David fiel diese Kumulation auf.

„Andere heiraten irgendwie anders als wir, oder?“

Und er bestand darauf, dass wir die Nacht vor unserer Hochzeit nicht in einem Hostel verbrachten, wie von mir vorgeschlagen, nachdem wir festgestellt hatten, dass an diesem Adventswochenende alle Hotels im Erzgebirge ausgebucht waren oder jenseits unserer Investitionsmöglichkeiten lagen. Zum Glück fanden wir noch ein wirklich hübsches Airbnb. Mit Kaminofen.

Als wir morgens zu unserem Standesamt aufbrachen, hatten wir den Weihnachtstrubel und all die tauenden, grau-braunen Schneeberge nicht bedacht, die die Straßen der Altstadt säumten und Parken unmöglich machten. Wir waren ortsfremd, und das Einbahnstraßensystem während der Weihnachtsmarktzeit führte uns und auch das Navi komplett in die Irre. Die Standesbeamtin, die schon auf uns wartete, navigierte uns nach ihren Möglichkeiten am Handy, und so kamen wir nur ein wenig verspätet ins Rathaus gerannt, mit der Kleinen auf meinem Arm, die wegen kurzer Beine und Erkältung nicht ganz mit uns Schritt halten konnte.

Ihre Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation (sie hat für Eile nichts übrig), ihre Krankheit und die allgemeine Aufregung der vergangenen Tage brachen sich im Verlauf unserer Trauung Bahn. Während David noch weinte, weil ich Ja gesagt hatte (ich hoffe, nicht wegen der Steuer), weinte sie lauter, weil sie sich irgendwo im Saal den Kopf gestoßen hatte. Und uns leuchtete ein, warum die meisten Paare heiraten, bevor ihr Junggemüse sich Lotta aus der Krachmacherstraße zum Vorbild nehmen kann und die Traurede mit Gebrüll begleitet, bevor es mit der Standesbeamtin schließlich in eine Rangelei um die Ringe gerät, die niemand Geringeres als unsere verschnupfte Jüngste zu uns tragen und in ihrem Namen ihren Eltern höchstpersönlich an die Finger stecken durfte. (Bei David übrigens an den Mittelfinger, weil der Ringfinger den Ring verliert.) Im Nachhinein fand ich es angesichts dieser Szenen immerhin weniger bedauerlich, dass die Große nur Handyfotografie gewöhnt ist und beinahe alle Hochzeitsfotos, die sie uns zuliebe mit meiner Canon gemacht hat, so unscharf sind, wie ich aus der Ferne sehe.

Am Ende der Zeremonie hatten wir alle, einschließlich der Standesbeamtin, zerzauste Haare, und als wir aus dem Rathaus schritten, setzte Regen ein. Aber ich war glücklicher, als ich erwartet hatte. Ich fühlte mich befreit und losgelöst nach all den Zweifeln der vergangenen Wochen; und dankbar dafür, dass nirgendwo in mir Reue zu spüren war. Wir hatten uns zu etwas entschieden, was sich richtig anfühlte. Als ich David ansah, fühlte ich mehr Heimat als davor. Es stimmte also nicht, dass das alles keinen Unterschied machte. Wir hatten Ja zu uns gesagt und uns, und das war neu, dagegen ausgesprochen, den Fluchtweg möglichst kurz zu halten. Für zwei Menschen, die ihre Freiheit so hochhalten wie wir, hat das Bedeutung.

Kurz danach setzte sich die Kleine beim Versuch, ihre Schneehose anzuziehen, auf dem Boden in eine Pfütze und weigerte sich, ihre nassen Klamotten weiter am Leib zu tragen. Sie trug forthin keine Hose unter ihrem Anzug, nicht mal eine Unterhose, und da sie mit vier nicht mehr in einem Alter ist, in dem ich immer Wechselwäsche mit mir herumtrage, ließen wir das Restaurant links liegen und fuhren direkt zurück in die Ferienwohnung. Am Tag unserer Hochzeit kochte ich Nudeln mit Tomatensoße. Und es schmeckte uns allen so gut wie immer.

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