Sweet Child O‘ Mine

So, ich tu’s. Bislang habe ich den Mut nicht gefasst, dieses Thema auf den Tisch zu bringen, weil es mich angreifbar macht und ich dachte, dass ich auf der Kopfebene nur verlieren kann. Ich hatte mein eigenes Urteil über mich schon gefällt, und es sah nicht gut für mich aus. Aber manchmal lohnt es sich, dass wir genauer hinsehen und prüfen, ob wir uns nur im vorauseilenden Gehorsam einem Urteil angeschlossen haben, das zwar vernünftig erscheint, jedoch gegen alles spricht, was wir fühlen. Es geht um die Frage, ob man nach einer erlebten Depression einem Kinderwunsch nachkommen sollte – darf – oder nicht. In einem Forum, in dem ich regelmäßig lese, wurde eine Frau fast mit Steinen beworfen, als sie sagte, sie und ihr Mann wünschten sich ein Kind, obwohl bekannt war, dass diese Frau zu Depressionen neigt.

Meine erste Schwangerschaft war ungeplant – auch wenn wir fest geglaubt hatten, dass das halbwegs gebildeten Menschen nicht passiert. Wir schlugen hart auf, als wir von unserem hohen Ross stürzten. Und die Art, wie wir unsere Wunden versorgen wollten, entzweite uns. Insbesondere weil ich in mir, wie tief ich auch suchte, keine Frage, sondern nur eine Antwort fand. Ich war entschlossen, die Verantwortung für dieses neue Leben zu übernehmen. Weil ich die Wucht einer Liebe in mir spürte, die nicht anklopfte und um Erlaubnis bat. Von der ich wusste, dass sie mich über mich hinauswachsen ließ, wenn es notwendig war.

Notwendig war es früh. Auch in meinem Umfeld gab es Menschen, die mich verurteilten. Sie sahen in mir eine junge Frau, die nicht mit beiden Beinen auf dem Boden stand; eine Suchende, rettungslos Irrende, die der Wirklichkeit nicht zuarbeiten wollte. Und versteht mich nicht falsch. Diese Menschen boten mir keinen wohlwollenden Rat. Keine Entscheidungshilfe, keine Unterstützung. Diese Menschen wollten mich zwingen, eine Entscheidung für das zu treffen, was ihren Glaubenssätzen entsprach. Egal, wie es mir damit ging.

Das war der Moment, in dem ich Wesentliches über mich lernte: Es gab etwas, das für mich nicht verhandelbar war. Es gab etwas, mit dem ich so identifiziert war, dass mich jeder Druck und jeder Gegenwind nicht brach. Weil ich nicht an mir zweifelte, zum allerersten Mal. Ab dem Moment wusste ich, dass ich niemals ideal, aber immer eine gute Mutter sein würde. Trotz meiner Erkrankung.

Und „gut“ wird von niemandem definiert, der meine Kinder nicht kennt.

Meine Tochter kam auf diese Welt und war das Licht, das ich vorher nicht sah. Das Licht in meinem Dunkel, das mir einen Sinn gab und den Wunsch, fortzubestehen. Wenn sie lachte, durfte ich erfahren, wie sich Glücklichsein anfühlt; was ich vom Leben haben und was ich ihm geben wollte. Sie führte mir vor Augen, wie stark ich sein kann, wenn das, wofür ich kämpfe, und das, woran ich wirklich glaube, eins geworden sind. Sie bewies mir, dass mein Existieren, mein Streben, meine Liebe für jemanden einen bedeutenden Unterschied machte. Und diese Art der Erfüllung – kategorisch – den Menschen zu verwehren, die zu Depressionen neigen, finde ich anmaßend. Es gibt viele nachvollziehbare Gründe, keine Kinder zu bekommen. Heute mehr als noch vor Jahrzehnten. Und viele bekommen Kinder aus den falschen. Halten sie wie Accessoires. Ordnen sie anderen, fragwürdigen Ansprüchen unter. Haben vor lauter Karriere keine Zeit, ihre Kinder und deren Bedürfnisse im Blick zu behalten. Aber ich sehe, dass das (zumindest bei Vätern) gnädiger bewertet wird. Entfremdete Arbeit und Lebensstandard gelten als obligat, als Erfordernis, ja, als Endzweck unseres modernen, unabhängigen Daseins als Homo Oeconomicus. Wer kann es sich heute noch leisten, seine Kinder zu fragen, wie es ihnen geht? Etliche gut situierte Eltern – ich meine hier die, für die Altersarmut nur ein Wort im Duden ist – verwechseln „Wohlstand“ mit Lebensqualität und entscheiden sich für die einzige gesellschaftlich geduldete Form der Vernachlässigung.

Ich will hier aber nichts beschönigen. Eine akute Depression ist ein kaum zu fassender Kraftakt. Und ja, es zerreißt mich, wenn meine Kinder wie ein Bündel aus Energie auf mich zustürmen und ich es nicht schaffe, meine Mundwinkel glaubwürdig zu einem Lächeln zu heben, weil mich die grundlegendsten Körperfunktionen schon überanstrengen. Es tut weh, wenn ich bei all ihren Abenteuern an ihrer Seite sein will, es aber nicht immer kann, weil es Tage gibt, an denen ich ihnen nicht guttue. Das ist hart, und die Frage, wie ich in diesen Zeiten ein Kind versorge, muss also gestellt werden, sie ist unerlässlich. Neben ärztlicher und therapeutischer Begleitung braucht es ein verlässliches Netzwerk, im Idealfall auch einen Partner, der abfedert, ohne Vorwürfe zu erheben, und es bedarf offener Kommunikation – nicht nur familienintern, wenn ein Netzwerk funktionieren soll. Was ich mir nicht leisten kann, ist Scham für meine Erkrankung und ihre Konsequenzen. Ich kann nicht um den Brei herumreden. Manchmal brauche ich Hilfe.

Natürlich vermag ich nicht für alle Eltern zu reden, die an Depressionen leiden, da ihre Ursachen – das, was sie triggert – extrem unterschiedlich sind. Ihre Ausprägungen sind es auch. Aber über mich kann ich sagen, dass mich eine depressive Episode meinen Kindern noch näher bringt. Diese Zeiten sind für mich die brutalste Erinnerung daran, was für mich von Wert ist, welche Grundbedürfnisse ich vernachlässigt habe und dass etwas in meinem Leben gerade aus dem Gleichgewicht gerät. Die Depression zwingt mich, authentischer zu handeln (weshalb mir bei meinen Kindern so viel daran liegt, dass sie sich für niemanden verbiegen). In diesen Phasen muss ich abgeben, hinnehmen, dass es im Haushalt, bei den Mahlzeiten und in unserem Sozialleben zu Abstrichen kommt. Für ein Kind, das Nähe braucht, habe ich jedoch immer Arme, die es umschließen und die mit jeder Faser meinen, was sie tun. Das spürt es. Und ich spüre, dass jedes Mal, wenn die Depression mir weismachen will, dass ich versage, in eine düstere Tiefe stürze und alles hoffnungslos ist – diese eine Gewissheit persistiert: Solange ich die Mutter meiner Kinder bin, solange ich liebe, gebe ich nicht auf. Meine Kinder sind gewissermaßen meine Lebensversicherung, aber das bleibt mein Geheimnis. Ihnen gegenüber gilt es umgekehrt. Denn die Verantwortung habe ich. Wenn ich krank bin, kümmere ich mich darum – sorge ich für mich, damit ich wieder gesund werde. Und ich sage ihnen, dass sie keine Schuld trifft, wenn es mir nicht gut geht. Das ist mein oberstes Gebot. Auf Kindern sollte niemals der Druck lasten, Verantwortung für ihre Eltern übernehmen zu müssen.

Wenn ich gesund bin, bin ich eine entspannte Mutter. Wer eine Depression durchgestanden hat, findet wenig tragisch, was im Alltag passiert. Ich gestehe meinen Kindern viele Freiheiten zu, weil ich die Freiheit, mich so zu entfalten, wie ich es mir wünsche, oft entbehrt habe. Und die Dankbarkeit, wenn mein Herz wieder für, nicht gegen mich schlägt, verhindert trotzig – mit verschränkten Armen -, dass ich mich von Dingen, die über das Leben betrachtet kein Gewicht haben, verstimmen lasse. Meiner Familie helfe ich, das, was einfach ist, erreichbar und alltäglich ist, wertzuschätzen. Gerade das. Menschen, die mit Gesundheit gesegnet sind, haben damit oft Schwierigkeiten. Ich bin die, die alle zusammenhält und mit meiner Hand ihre Köpfe zur Sonne dreht.

Bei der Frage, wann es egoistisch ist, ein Kind zu bekommen, geht es für mich auch um die Frage, was ein Kind braucht. „Man lebt nicht nur von Liebe allein“, wurde mir gesagt, als hätte ich nicht seit meinem Abitur gearbeitet. Aber braucht es ein großes Haus, zwei Autos, Flugreisen, braucht es neue Klamotten, statt welche vom Flohmarkt? Natürlich wusste ich, dass ich es schwer haben würde, auf Vollzeit zu gehen oder anders Kapital aus meinen Fähigkeiten zu schlagen. Ich habe mir da nichts vorgemacht. Doch abgesehen von erfüllten Grundbedürfnissen braucht ein Kind für mich Bindung und Zeit, danach kommt lange nichts. „Prekär“ aufwachsen sehe ich auch Kinder, die materiell im Überfluss leben. Eine innige Umarmung von mir bringt mein Kind sicherer auf seinen Weg als Ballettunterricht und drei verschiedene Streaming-Dienste. Dafür kann man auf mich hinunterlächeln, und keine Sorge, unsere Töchter besuchen Vereine. Aber zur Kernaussage stehe ich. Darum habe ich darauf geachtet, dass sie vertrauensvolle Bindungen zu anderen Bezugspersonen aufbauen, und nicht versucht, ihrem Bindungsbedürfnis allein nachzukommen. Außerdem haben wir ihnen früh viel zugetraut, das sie heute selbstständig schaffen. Die Große bewegt sich seit der fünften Klasse souverän im Nah- und Fernverkehr und ist stolz darauf; um nur ein Beispiel zu nennen. Sich auf Eltern verlassen und sich selbst helfen können – das ist kein Entweder/oder.

Meine depressiven Episoden sind seltener geworden und weniger heftig, seit meine Kinder da sind. Die Verantwortung für sie wog nie so schwer wie andere Pflichten, weil ich mit meiner Entscheidung im Reinen war. Nie habe ich meine Mutterschaft bereut. Nochmal – das liegt an meinem Wesen, meinen Prioritäten, und ist nicht repräsentativ. JEDER Kinderwunsch muss entromantisiert und durchdacht werden. Jeder, der überlegt, ein Kind zu bekommen, sollte sich auf ehrliche Weise mit seiner eigenen Vorstellung vom guten Leben auseinandersetzen. Menschen rutschen in eine Depression, weil sie aufgrund ihrer Elternschaft berufliche Ziele nicht erreichen. Et cetera. Es gibt nicht nur den einen Weg zum Glück. Was Sinn stiftet, entscheidet jeder für sich selbst. Das, was in mir Wut erzeugt und nach diesem Blogbeitrag geschrien hat, ist die pauschale Haltung, dass uns ein Kinderwunsch nicht zusteht und nur neurotypische Menschen haben, was es braucht, um selbstsichere Kinder großzuziehen – die dem Leben standhalten, wenn sie erwachsen sind; mit Empathie und dem Bewusstsein, dass nicht alle Menschen auf dieselbe Weise funktionieren. Und dass es dieser Anspruch ist, der unsere Kinder bedroht.

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