Ein düsteres Kind ohne Namen

Jede Geschichte hat einen Anfang. Und das, was mein Leben zu dem gemacht hat, was es heute ist, begann, als ich sieben Jahre alt war. Zumindest in meiner Erinnerung.

An diesen Punkt zurückzugehen, ist für mich von Bedeutung, da ein Leben nur zu verstehen ist, wenn man es als Ganzes, als Folge von Erlebnissen betrachtet. Über die Art, wie sich andere Leute ihr Leben eingerichtet haben, urteilen wir oft wie über Dreck. Wenn wir über den Zaun gucken, stört er uns; er passt nicht in das Bild, das wir von unserer Umgebung haben wollen, und dabei macht es keinen Unterschied, wo der Dreck im Garten nebenan herkommt. Würden wir unseren Nachbarn fragen, würde er uns vielleicht erklären, dass er keiner Vernachlässigung geschuldet, sondern ein Erbe ist und uns die Geschichte seines Gartendrecks erzählen. Und wir würden denselben mit anderen Augen betrachten.

Warum verlassen sich so viele Menschen allein auf das, was sie sehen?

Ein Leben ist komplexer als eine Momentaufnahme.

Übrigens muss man gar nicht unglücklich sein, um ein hartes Urteil über sein eigenes Leben zu fällen. Der Gedanke, mich unglücklich zu nennen, kommt mir fast absurd vor. Wenn ich morgens mit einer Tasse heißem Kaffee in der Hand meiner Tochter hinterherschaue, wie sie die Straße hinuntergeht und dabei ihren lila Sportbeutel mal mit ihrem linken Fuß, dann mit rechts kickt und anschließend auf dem Gehweg hinter sich herschleift, ist für mich alles sonnenklar. Ich seufze und weiß, dass ich sie nachher dafür tadeln werde. Nochmal. Und im selben Moment ist es wieder da, das bange und gleichzeitig warme Gefühl, das mich umgibt, wenn ich dieses kleine Persönchen schon vermisse, noch bevor es um die Ecke biegt. Seit ich bedingungslose Liebe kenne, käme mir nie über die Lippen, dass ich unglücklich bin.

Aber es gibt Tage, an denen das Karussell in meinem Kopf sich dreht und dreht und dreht um die Frage, ob ich es wert bin, überhaupt zu leben. Weil ich wenig Profit geschlagen habe aus den Chancen, die mir zu jeder Zeit geboten wurden. Mich hat nie jemand zurückgehalten außer mir selbst. Es sind Tatsachen wie diese, die das Bild des Depressiven, der nur endlich aus seinem Schatten treten muss, mit Futter versorgen. Und zwar nicht nur da draußen; auch in uns drin. Nicht nur unsere Umgebung, sondern auch wir selbst sitzen über uns Gericht, wenn es von außen betrachtet überhaupt keinen Grund gibt, niedergeschlagen zu sein. Obwohl wir wissen, dass unsere Grenzen wirklich sind – wir betrachten uns mit den Augen der anderen, und plötzlich ergibt nichts mehr von dem, was wir unser Leben lang als zwangsläufig erfahren haben, einen Sinn. Wir sehen an uns hinunter und verurteilen uns wie jemand, der nicht weiß, wo wir herkommen.

Ich habe meine Familie immer geliebt; auch dann, wenn mein Bruder genervt die Tür vor meiner Nase zugeschlagen hat oder keine Wand dick genug war, um mir die lärmende Musik meiner Schwester von den Ohren zu halten. Meine Eltern unterstützen mich bis heute und lassen mich atmen. Ich darf mich entfalten, das ist ein immenses Privileg. Wir waren nie reich, wir waren nicht arm; klug bin ich auch. Mir war alles gegeben, um einen Weg einzuschlagen, der zu Erfolg und Unabhängigkeit führt. Außer eine gesunde Beziehung zu mir selbst.

Wie verzeiht man sich, eine Chance nach der anderen vertan zu haben? Vertan klingt fast zu aktiv; ich habe den Chancen entgegengeblickt und sie vorbeifliegen lassen, mit einer schwerfälligen, kaum vernehmbaren Bewegung meines Kopfes. Ich habe mich nicht mal getraut, meine Hand auszustrecken und sie anzuhalten, um sie genauer zu betrachten.

Warum?

Ich packe meinen Koffer und gehe zurück in meine Kindheit. Ich stehe in der Küche und schaue mir zu. Sieben Jahre bin ich alt; es ist Advent. Bald ist Weihnachten. Wie liebe ich Weihnachten! Alles, was dazugehört. Das Kribbeln im Bauch, wenn ich meinen Wunschzettel auf ein Stück Papier schreibe und noch nicht weiß, welcher Wunsch in Erfüllung gehen wird; die Lichter überall, die leckeren Gerüche und die Hoffnung, dass es schneit; die Menschen, die zu dieser Zeit des Jahres irgendwie fröhlicher und freundlicher sind – wie von Zauberhand. Und es stimmt. Vorfreude ist die schönste Freude. War es. In allen Jahren, bis dieses kam.

Es ist draußen schon dunkel, als ich mich da stehen sehe; mit einer Schürze umgebunden, meine Pulli-Ärmel habe ich nach oben geschoben, weil ich gerade Plätzchenteig knete. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Fernseher. Um die Uhrzeit schaut mein Bruder immer Alf oder die Simpsons. Ich höre, wie meine Mutter singt, während sie die Wäsche bügelt, und mein Vater lässt gerade den Rollladen an unserer Terrassentür herunter. Dann sehe ich, wie ich in meiner Bewegung innehalte. Meine Hände stecken noch im Teig. Sie halten ihn fest und fester. Und plötzlich erwischt es mich, als wäre seit damals keine Zeit vergangen, und ich fange an zu weinen. Ich spüre selbst wieder die Schwere in meiner Brust; mit Anstrengung versuche ich, den Klos, der in meinem Hals nach oben wandern will, hinunterzuschlucken. Diesen schmerzenden Klumpen aus tief empfundener Traurigkeit, der gerade versucht, mir alle Hoffnung zu rauben. Hoffnung, die ich zuvor nie gekannt habe; von der ich nicht wusste, dass sie in mir schlief. Erst, als sie mir genommen wurde, wusste ich, dass sie mir fehlte. Ich konnte nicht begreifen, was mit mir passiert war. Ich kannte keinen Namen für das, was vor sich ging. Aber ich wusste, dass es mir furchtbare Angst machte, Angst, die mich lähmte, und dass all die Geräusche, die mich an dem Abend umgaben und die so vertraut waren, dass ich mich in ihnen geborgen fühlte, nie wieder so klingen würden wie früher. Wenn ich sie nach diesem Abend hörte, waren sie nur noch ein ferner Nachhall, der mich auf grausame Weise an ein Leben erinnerte, das ich gern gelebt habe. An ein normales Leben, in dem ich nicht, sobald die Dunkelheit hereinbrach, unter meine Bettdecke kroch, wo mich die Frage quälte, warum ich aus dem Leben, das mir noch vor kurzem gar nicht sonderlich kostbar erschien, verstoßen wurde.

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