For every sadness I deny, I feel a chance inside me die. – Midge Ure, Breathe
Achtung! Grenze.
Hast du deine Karte verkehrt herum gehalten? 😉 Dieser Blog ist so gut versteckt, dass er nur von denen gefunden wird, die ihn nicht suchen. Aber ich bin froh, dass du da bist. Hier hast du einen Keks.
Noch ein paar Zeilen und du befindest dich in dem Dickicht, das mein Herz ist. Waffen müssen draußen bleiben. Mein Herz ist ein Gebiet, zu dem ich nur netten Menschen Zugang gestatte.
Was? Nein, ich bin leider keine Autistin.
Leider?
Ja, ich hab Nerven. Und offensichtlich so wenig Ahnung, dass es wehtut.
Genau so ist es. Fünfzehn Jahre Psychotherapie, und das ist so ziemlich das Einzige, das klar ist: I don’t belong. Dass ich irgendwann — kurz gedacht, ich weiß — auf den Asperger-Zug aufspringen wollte, hat zum einen damit zu tun, dass es mich schon lange zu Aspies hinzieht. Sie kennen das Gefühl, auf einem fremden Planeten zu leben, auf dem sie nicht zuhause sind. Zum anderen wollte ich, dass mich jemand auf der Straße abklatscht („Yeah! High five!“), weil wir zum selben Schlag gehören. Zugegeben, das wäre ziemlich untypisch für Aspies. Aber ich dachte, ich fühle mich weniger einsam, wenn ich irgendwie diagnostiziert bin. Ich dachte, eine Diagnose macht meine Gefühlswelt verständlich. Macht mein Erleben okay. Macht es leichter für mich, mich nicht zu hassen.
Meine Therapeutin ist auch dagegen, dass ich mich unter dem einsturzgefährdeten Dach der Hochsensibilität verkrieche. „Natürlich sind Sie hochsensibel!“, hat sie — immerhin — geseufzt, als ich ihr verkündete, dass ich mich endlich selbst diagnostiziert habe. Nein, sie war nicht beeindruckt. Sie warf ihre Arme in die Höhe und machte eine Bewegung, als wollte sie die Luft erwürgen. Jetzt war ich die Beeindruckte; so genervt hatte ich sie bisher nicht erlebt, und ich strapaziere sie schon lange. Dabei hatte ich ehrlich gehofft, dass sie mir ein Attest ausstellt, dass ich an alle verteilen konnte, die irgendetwas von mir erwarteten. „Frau M. ist hochsensibel. Bitte haben Sie Nachsicht mit ihrer eingeschränkten Funktionalität. Im untypischen Falle einer Genesung kommt sie gerne wieder auf Ihre Ansprüche zurück.“ Auch eine Art Ausweis fand ich denkbar: „Frau M. braucht all ihre Kraft, um so normal zu wirken, wie sie es tut. Verzeihen Sie ihr, wenn keine Kraft für Sie übrig bleibt.“ Oder wenigstens eine Parkberechtigung. Nichts da. Meine Therapeutin verabschiedete mich an dem Tag mit keinem mitfühlenden Handschlag, sondern mit verschränkten Armen, zwei hochgezogenen Augenbrauen und einer strengen Warnung im Blick.
Ihre Sorgen kommen natürlich nicht von ungefähr. Sie wehrt ab, dass ich mit Diagnose kapituliere. Aufgeben hat noch niemanden glücklich gemacht. Glück ist Arbeit, davon ist keiner befreit. Und schließlich sitze ich ihr seit vielen Jahren gegenüber, weil sie klug ist, und nicht, weil sie mir immer Recht gibt oder mich mit Tatsachen verschont. Aus ihrem Ärger sprach, dass ihr an mir liegt und dass sie sich nicht damit zufrieden gibt, wenn ich mich mit einer weißen Fahne in der Hand einem Schicksal füge, das nicht für mich bestimmt ist. Sie erinnert mich daran, wer ich sein kann, wenn ich eines Tages anfange, mir selbst zu vertrauen. Das brauche ich. Und es tut mir gut, wie sie mich sieht. Es lässt mich noch ein bisschen Hoffnung festhalten; wie einen Ballon an einem hauchdünnen Faden.
Aber an manchen Tagen droht der Faden im Sturm zu reißen. An anderen lasse ich ihn einfach los und starre dem Ballon hinterher; schaue regungslos zu, wie der Wind ihn zum Tanz auffordert und ihn dann immer weiter mit sich davonträgt, weiter, und weiter, bis ich mich aus meiner Lethargie rette und losrenne, hinter ihm her, und auf Bäume klettere, aus deren Wipfeln ich ihn befreie. Das war eng. Denn die Vorstellung, nicht mehr kämpfen zu müssen, bringt mich in Versuchung. Ich bin inzwischen über dreißig Jahre alt. Ich bin behütet aufgewachsen, und ich glaube, dass ich mir meine Eltern ausgesucht habe. Als meine Freunde es nach dem Abi nicht abwarten konnten, möglichst viele Kilometer zwischen sich und ihre Familien zu bringen, ließ ich mich denken, dass ich noch nicht erwachsen sei. Weil ich die Nähe zu meinen Eltern schätzte. Dass ich Depressionen habe, seit ich sieben Jahre alt war, konnten sie trotzdem nicht verhindern. Und jeden Tag verfluche ich den Umstand, dass ich das Glück nicht empfinden kann, zu dem sie mir den Weg geebnet haben.
Depressionen? Hallo? Aber das ist doch eine Diagnose!
Jein. Für mich waren meine Depressionen immer eine Folge, nicht der Ursprung eines Problems, das tiefer in mir liegt. Davon abgesehen, dass Depressionen von vielen Leuten noch nicht wirklich als Krankheit anerkannt werden. Im Gegenteil. Oft werden sie immer noch als selbstverschuldet erachtet. Depressiv wird, wer sich keine Mühe gibt, das Leben als das, was es ist, zu ertragen. Depressive bemitleiden sich selbst für etwas, das anderen ja auch nicht erspart bleibt. Get over it! C’est la vie! Wir sind die Stiefkinder der Kranken. Weil wir theoretisch noch zu fast allem fähig sind. Gefühlslagen sind Feinheiten, die man leugnen kann. Zurückstellen muss. Nur dass das eben nicht immer gelingt. Wenn es mich erwischt, sitze ich in einem dunklen, verschlossenen Raum, in dem sich nichts befindet außer mein Kopf auf einem trägen Körper, in welchem mein Herz so langsam schlägt, dass ich nach jedem Schlag denke, es war der letzte; auch die Luft wird immer knapper. Und dann höre ich die Leute von draußen ungeduldig gegen die Wand pochen und rufen: „Mach doch einfach das Licht an!“ — Aber wie denn? Da ist keine Lampe. Von der Decke hängt nur ein Strick.
Ich bin depressiv, weil ich einsam bin, obwohl selten allein. Einsam bin ich, weil ich das Gefühl habe, „anders“ zu sein, aber nicht in einem schicken, kultivierten Sinn, sondern in einem, der mir Grenzen mit großer Tragweite setzt. Grenzen, die bedrohlich vor mir in die Höhe ragen und dunkle Schatten auf mich werfen. Wenn ich Teil einer Gruppe bin, ob unter Kollegen, unter Eltern, im Festzelt, fühle ich mich wie hinter einer Wand aus Glas. Wie ein Zaungast, der andere beim Leben beobachtet, aber selbst nicht daran teilnimmt. Und aus Angst, dass ich auffliege und alle mit dem Finger auf mich zeigen, bekomme ich Panikattacken. (Die sind dem Versuch, nicht aufzufallen, sehr dienlich. Ironisch, ich weiß.)
Als ich stationär in eine Klinik aufgenommen wurde, weil ich begann, gegen die Panik in mir anzutrinken, wurde ich dort ohne Umschweife als Soziophobikerin diagnostiziert. Check. Und done. Das war einfach. Ich wollte ja auch eine Diagnose. Aber keiner hat mich danach gefragt, ob die Angst mich paralysiert, wenn ich einkaufe, wenn der Handwerker kommt, wenn ich in der Warteschlange vor der Achterbahn stehe oder ich samstagabends auf einem Konzert dicht an Leute gedrängt bin, die ich nicht kenne. Das macht alles nichts mit mir. Denn dort beurteilt niemand den Menschen, der ich bin. Ich bekomme erst Panik, sobald jemand auf einer persönlichen Ebene mit mir in Beziehung treten will. Sobald jemand Erwartungen in meine konkrete Person setzt. Als das damals anfing, waren Referate mein größtes Problem. Kollaps vor der Klasse — herrlich, und das stimmte wunderbar auf das nächste Referat ein. Ich war erste Vorsitzende der Initiative zur Rehabilitierung des Frontalunterrichts. Später waren es Männer, die sich von mir angezogen fühlten. Ja, schön, dich kennenzulernen! Hältst du bitte mal mein Bier? Ich muss kurz hyperventilieren. (Scherz — als ob ich in der Lage gewesen wäre, etwas anderes hervorzubringen als uuhääähh.) Heute sind es Kunden, die mich am Telefon kalt erwischen; und deren Anforderungen mich damit konfrontieren, wie zerbrechlich ich bin. Wie störanfällig. Die mich heute daran erinnern, dass ich zu den Wackelkandidaten unserer Leistungsgesellschaft gehöre.
Unter den Grenzen meiner Möglichkeiten kann also nicht mal ein Zwerg Limbo tanzen. Ja, ich denke da vor allem an Karriere. Ich würde mich fleißig für einen Job aufopfern, bis ich ausbrenne, wie es heutzutage zum guten Ton gehört — wenn noch etwas zum Verbrennen da wäre. Und wenn ich einen Sinn darin erkennen könnte, nie Zeit für das zu haben, was mir tatsächlich wichtig ist, und am Ende kaputt zu sein. Glücklich sind die, die in ihrer Arbeit aufgehen. Ich gehe nur in der Kreativität und als Mutter auf, beides wird mir nicht bezahlt. Wenn ich mit meiner Tochter zusammen bin, stellt sich mir nie die Frage nach dem Sinn, die mir sonst mit einem Vorschlaghammer den Kopf in Trümmer legt, bei allem, was ich tue. Selbst während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, wozu eigentlich. Diese Zweifel sind anstrengend.
Aber eine Entschuldigung fürs Leben schreibt meine Therapeutin mir immer noch nicht.
„Ihre Disposition spricht Sie von nichts frei. Betrachten Sie sie einfach als Wegweiser. Jeder Einzelne von uns blickt Herausforderungen entgegen oder auf sie zurück. Die Kunst ist, in ihnen Chancen zu sehen.“
„Welche Chance sollte das sein?“
„Es sind unsere unüberwindbar erscheinenden Grenzen, die uns eine Ahnung davon geben, wer wir sind und was richtig für uns ist.“
„Wissen dann normale Menschen nicht, wer sie sind?“
„Es gibt keine Menschen, die normaler sind als Sie. Aber es gibt die, die sich über das definieren, was gar nicht zu ihnen gehört — ohne es zu hinterfragen. Die danach handeln, was andere tun. Die nur nach draußen blicken; und wenn sie allein sind, sind sie völlig verloren. Ohne jede Orientierung.“
„Das bin ich auch.“
„Nein. Ihre Grenzen stoßen Sie in eine Richtung, ob sie wollen oder nicht.“
„Sie meinen, weg von allem?“
Oh, oh. Sie verdreht schon wieder die Augen.
„Jeder Ihrer Fasern ist bewusst, wer Sie sind. Das macht Sie weniger flexibel. Weniger anpassungsfähig. Anfälliger für Depressionen, wenn Sie Vorgaben folgen müssen, die nicht ihre eigenen sind. Es macht Sie panisch, dass Ihre Grenzen und Eigenheiten Sie zu einem Menschen machen, den man mögen oder auch nicht mögen kann. Natürlich. Man kann das alles schön auf Negatives herunterbrechen. Oder aber Sie machen aus Ihrer Persönlichkeit keine Krankheit.“
„Sondern?“
Schön geschrieben, das humorige gefällt mir, geht mir nur viel zu oft verloren.
Danke. Ja, das war bisher meine effektivste Strategie. Hilft nicht immer, manchmal überzeug ich mich selbst nicht … aber wenn man es sich zur Gewohnheit macht, wird es irgendwann einfacher, weil der Kopf nicht mehr so oft dazwischengrätscht. Es lebe die List, ha! 😉