Ich will raus

Der Tee dampft heiß aus meiner Tasse, eine Kerze flackert daneben, sie feuert mich an mit ihrem Tanz. Ich setze meine Kopfhörer auf und lade damit alle Geräusche aus, die sich zwischen mich und meine Gedanken drängen; die mir den Weg abschneiden zu dem, was in mir vorgeht und was ich erzählen will. Der Lärm der Baustelle unter unseren Fenstern und die Schritte von David, der im Homeoffice arbeitet und niemals sitzen kann, während er telefoniert, verschwinden hinter den Klängen von Ólafur Arnalds. Die instrumentalen Kompositionen des Isländers bringen meine Gefühle zum Schwingen und sind eigentlich ideal fürs Schreiben. Eigentlich.

Warum quält es mich, einen Roman zu Papier zu bringen, obwohl ich das immer wollte? In der Vergangenheit hatte ich stets gute Gründe, es nicht zu tun. Und wurde durch die bittersüße Wehmut getröstet, dass zwischen mir und meinem Roman schlicht die Vernunft stand, gegen die niemand ankommt: Ich musste in der Zeit, in der die Kinder nicht zu Hause waren, arbeiten. Das bedeutete für mich, die Romane anderer Menschen zu begutachten. Und das ist gern geschehen.

Seit ich mein Honorar und meinen Selbstwert über mein Existenzminimum gehoben habe und kaum Manuskripte auf meinem Tisch landen, ist mir dieses Argument genommen. Und David fragt folgerichtig: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Doch sobald meine Finger über der Tastatur hin- und herjagen wie ein Hund vor dem Spaziergang, ungeduldig mein Kommando erwartend, zermartert mich die Erkenntnis, dass mein Problem wesentlich größer ist, als ich mir eingestanden hatte. Es lag nie nur an der Zeit.

Wer einen Roman schreibt, beschreibt das Leben. Es ist egal, ob es Tage, Wochen oder Monate sind; egal, ob Science Fiction oder Fantasy — gelebt wird auch hier. Und je kürzer der Ausschnitt des Lebens, umso dichter wird aus diesem erzählt. Umso deutlichere Worte braucht man, es zu zeigen und es spürbar zu machen. Und daran scheitert es bei mir. Ich habe keine Worte. Denn ich habe nie gelebt.

Die Sprache der anderen spreche ich fließend. Das ist mein Beruf. Aber was ich selbst beschreiben kann, spielt auf der Bühne, die mein Kopf ist. Und das ist ein ganz schön enger Raum. Ich kann mit vielen Worten beschreiben, wie es ist, depressiv zu sein. Ängste durchzustehen. Sich unentwegt Sorgen zu machen und nie zur Ruhe zu kommen. Nachts mit sich zu kämpfen, statt zu schlafen. Das Gestern auszuhalten, dann das Heute, und morgen auch. Eine Gefangene zu sein, die nie die Freiheit kannte, ihrem Kopf zu entkommen, sich freizulaufen, alles loszulassen, was sie hält. Die in ihrem Inneren in Ketten liegt, Ketten aus Trauma und Missachtung, und die Luft anhält, die die anderen da draußen atmen.

Draußen. Ich will raus.

Ich will nicht nur über das schreiben, was ich kenne. Dafür habe ich diesen Blog. Ich will einen Roman schreiben, der über mich hinausgeht. Der andere nicht zu mir hinunterzieht, sondern das Gegenteil bewirkt. Der diese Welt preist, statt zu beklagen. Und ich will Figuren durchs Leben bringen, die wandelbar sind und die sehen, was sie sehen.

Kennt ihr das, wenn ihr eine Straße entlanggeht und euch am Ende, als wärt ihr nie dort gewesen, nicht an sie erinnert? An keines der Häuser, an kein Detail ihrer Fassaden? Jeder versinkt mal tief in Gedanken. Für mich war das Alltag, über Jahrzehnte. Wenn ich heute — bewusst, wie mein inneres Erleben mich von der Außenwelt trennt — meine Umgebung entschlossen betrachte, muss ich feststellen, dass mir noch das Vokabular fehlt, sie zu beschreiben. Ich bin wie ein Kind, das man an die Hand nehmen muss, um ihm alles, worauf es mit seinem Finger zeigt, geduldig zu erklären. Das, mein Kind, ist die physische Welt. Das, was du anfassen kannst, was hier ist; egal, ob du glücklich oder traurig bist oder deine Existenz infrage stellst. Hier draußen ist das, worüber sich fast alle Menschen verständigen können. Ein Baum ist ein Baum ist ein Baum. Für manche ist er ein Laubbaum. Für einige sogar eine Linde.

Ich will Linden sehen. Und über ein Mädchen schreiben, das im letzten Sonnenlicht an einer Sommerlinde lehnt.

Diesen Blog habe ich ins Leben gerufen, weil ich finde, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu selten sichtbar werden. Diese völlige Überreizung im Innern, die gefühlte Notwendigkeit, dich von früh bis spät an dir selbst abzuarbeiten, ist ein Teil der Krankheit, der dir noch wie Blei am Bein hängt, wenn die Krankheit geht. Mir hat er viele praktische Fähigkeiten verwehrt. Dank meiner Therapie bemerke ich inzwischen gut, wenn ich etwas zergrüble, statt es zu tun. Ich tue dann. Irgendwas. Unser Balkon ist zu einem kleinen, duftenden Garten geworden. Wenn meine Finger die kühle Erde auflockern, fühle ich mich mit dem Draußen verbunden. Ich habe Pflanzen keimen sehen, sie verloren und gelernt, was „Echter Mehltau“ bedeutet, mit meiner Jüngsten die prallsten Tomaten vom Strauch gepflückt, die noch nie besser schmeckten. So habe ich angefangen, gemeinsam mit meinem Kind die Sprache zu lernen, der ich früher keine Schublade in meinem Kopf freigeräumt habe. Er war bis zum Bersten voll mit mir. Ich bin jetzt Mitte dreißig. Und passe zum ersten Mal im Unterricht auf.


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