„Hat man sein Warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.“ — Nietzsche
Achtung! Grenze.
Hast du deine Karte verkehrt herum gehalten? 😉 Dieser Blog ist so gut versteckt, dass er nur von denen gefunden wird, die ihn nicht suchen. Aber ich bin froh, dass du da bist. Hier hast du einen Keks.
Noch ein paar Zeilen und du befindest dich in dem Dickicht, das mein Herz ist. Waffen müssen draußen bleiben. Mein Herz ist ein Gebiet, zu dem ich nur netten Menschen Zugang gestatte.
Warum so empfindlich?
Ich bin Anna und ich leide unter einer Double Depression. Die Frage, warum, quält mich seit meiner Jugend. Zwanzig Jahre Psychotherapie, und das ist so ziemlich das Einzige, das klar ist:
I don’t belong.
Ich dachte lange, ich fühle mich weniger einsam, wenn ich irgendwie diagnostiziert bin. Ich dachte, eine Diagnose macht meine Gefühlswelt verständlich, vor allem für mich. Macht mein Erleben okay. Macht es leichter, mich nicht zu hassen.
Meine Therapeutin war damals ausdrücklich dagegen, dass ich mich unter dem einsturzgefährdeten Dach der Hochsensibilität verkrieche. „Natürlich sind Sie hochsensibel!“, hat sie — immerhin — geseufzt, als ich ihr verkündete, dass ich mich endlich selbst erschlossen habe. Nein, sie war nicht beeindruckt. Sie warf ihre Arme in die Höhe und machte eine Bewegung, als wollte sie die Luft erwürgen. Jetzt war ich die Beeindruckte; so genervt hatte ich sie bisher nicht erlebt, und ich strapazierte sie schon geraume Zeit. Dabei hatte ich ehrlich gehofft, dass sie mir ein Attest ausstellt, das ich an alle verteilen konnte, die irgendwas von mir erwarteten. „Frau X ist hochsensibel. Bitte haben Sie Nachsicht mit ihrer eingeschränkten Funktionalität. Im untypischen Falle einer Genesung kommt sie gerne wieder auf Ihre Ansprüche zurück.“ Oder: „Frau X braucht all ihre Kraft, um so normal zu wirken, wie sie es tut. Verzeihen Sie ihr, wenn keine Kraft für Sie übrig bleibt.“ Oder wenigstens eine Parkberechtigung. Aber nada – nichts da. Meine Therapeutin verabschiedete mich an dem Tag mit keinem mitfühlenden Handschlag, sondern mit verschränkten Armen, zwei hochgezogenen Augenbrauen und einer strengen Warnung im Blick.
Ihre Sorgen kamen natürlich nicht von ungefähr. Sie wollte abwenden, dass ich aufgrund einer Diagnose kapituliere. Aufgeben hat noch niemanden glücklich gemacht. Glück ist Arbeit, davon ist keiner befreit. Und schließlich saß ich ihr seit vielen Jahren gegenüber, weil sie klug war, und nicht, weil sie mir immer Recht gab oder mich mit der Wahrheit verschonte. Aus ihrem Ärger sprach, dass ihr an mir lag und dass sie sich nicht damit zufriedenstellte, wenn ich mich mit einer weißen Fahne in der Hand einem Schicksal fügte, das nicht für mich bestimmt war. Sie erinnerte mich daran, wer ich sein könnte, wenn ich eines Tages anfange, mir selbst zu vertrauen. Das brauchte ich. Und es tat mir gut, wie sie mich sah. Es ließ mich noch ein bisschen Hoffnung festhalten; wie einen Ballon an einem hauchdünnen Faden.
Aber an manchen Tagen droht der Faden im Sturm zu reißen. An anderen lasse ich ihn einfach los und starre dem Ballon hinterher; schaue regungslos zu, wie der Wind ihn zum Tanz auffordert und ihn dann immer weiter mit sich davonträgt, weiter, und weiter, bis ich mich aus meiner Lethargie rette und losrenne, hinter ihm her, und auf Bäume klettere, aus deren Wipfeln ich ihn befreie. Das war eng. Denn die Vorstellung, nicht mehr kämpfen zu müssen, bringt mich in Versuchung. Ich bin inzwischen über dreißig Jahre alt. Ich bin behütet aufgewachsen, und ich glaube, dass ich mir meine Eltern ausgesucht habe. Als meine Freunde es nach dem Abi nicht abwarten konnten, möglichst viele Kilometer zwischen sich und ihre Familien zu bringen, ließ ich mir Zeit. Weil ich die Nähe zu meinen Eltern schätzte. Dass ich Depressionen habe, seit ich sieben Jahre alt war, konnten sie trotzdem nicht verhindern. Und jeden Tag verfluche ich den Umstand, dass ich das Glück nicht empfinden kann, zu dem sie mir den Weg geebnet haben.

Depressionen? Hallo? Aber das ist doch eine Diagnose!
Jein. Für mich waren meine Depressionen immer eine Folge, nicht der Ursprung eines Problems, das tiefer in mir liegt. Davon abgesehen, dass Depressionen von vielen Leuten noch nicht wirklich als Krankheit anerkannt werden. Im Gegenteil. Oft werden sie als selbstverschuldet erachtet oder als freie Entscheidung. Depressiv wird, wer sich keine Mühe gibt, das Leben als das, was es ist, zu ertragen. Depressive bemitleiden sich selbst für etwas, das anderen ja auch nicht erspart bleibt. Get over it! C’est la vie! Wir sind die Stiefkinder der Kranken. Weil wir theoretisch noch zu fast allem fähig sind. Psychische Verfassungen sind Hürden, die man leugnen kann. Nur dass das eben nicht immer gelingt. Wenn es mich erwischt, sitze ich in einem dunklen, verschlossenen Raum, in dem sich nichts befindet außer mein Kopf auf einem trägen Körper, in welchem mein Herz so langsam schlägt, dass ich nach jedem Schlag denke, es war der letzte; auch die Luft wird immer knapper, das Gewicht in mir so schwer. Und dann höre ich die Leute von draußen ungeduldig gegen die Wand pochen und rufen: „Mach einfach mal das Licht an!“ — Aber wie denn? Da ist keine Lampe. Von der Decke hängt nur ein Strick.
Ich bin depressiv, weil ich einsam bin, obwohl selten allein. Einsam bin ich, weil ich das Gefühl habe, „anders“ zu sein, aber nicht in einem schicken, kultivierten Sinn, sondern in einem, der mir Grenzen mit großer Tragweite setzt. Grenzen, die bedrohlich vor mir in die Höhe ragen und dunkle Schatten auf mich werfen. Wenn ich Teil einer Gruppe bin, ob unter Freunden, unter Eltern, im Festzelt, fühle ich mich wie hinter einer Wand aus Glas. Wie ein Zaungast, der anderen beim Leben zuschaut, aber selbst nicht daran teilnimmt. Und aus Angst, dass ich auffliege und alle mit dem Finger auf mich zeigen, bekomme ich Panikattacken. (Die sind dem Versuch, nicht aufzufallen, sehr dienlich; ich weiß.)
Als ich stationär in eine Klinik aufgenommen wurde, weil ich begann, gegen die Panik in mir anzutrinken, wurde ich dort ohne Umschweife als Soziophobikerin diagnostiziert. Check, und done. Das war einfach. Ich wollte ja auch eine Diagnose. Aber keiner hat mich danach gefragt, ob die Angst mich paralysiert, wenn ich einkaufe, wenn der Handwerker kommt, wenn ich in irgendeiner Warteschlange stehe oder auf einem Konzert dicht an Leute gedrängt bin, die ich nicht kenne. Das sind alles soziale Situationen, und sie machen nichts mit mir. Denn dort beurteilt niemand den Menschen, der ich bin. Ich bekomme erst Panik, sobald jemand auf einer persönlichen Ebene mit mir in Beziehung treten will. Sobald jemand Erwartungen in meine konkrete Person setzt. Als das damals anfing, waren Referate mein größtes Problem. Viele von euch werden das kennen. Kollaps vor der Klasse — herrlich, und das stimmte wunderbar auf das nächste zu erwartende Referat ein. Meine Mitschüler dachten irgendwann, ich hielt sie alle für Götter und meine Ehrfurcht knechtete mich. Dem begegnete ich als erste Vorsitzende der Initiative zur Rehabilitierung des Frontalunterrichts. Später waren es Männer, die sich von mir angezogen fühlten, von denen ich Rückenwind an der Klippe meines Lebens bekam. „Hältst du bitte mal mein Bier? Ich muss kurz hyperventilieren.“ (Nein, Scherz. Als ob ich in der Lage gewesen wäre, etwas anderes hervorzubringen als Uuuhäähh.) Heute sind es Kunden, die mich am Telefon kalt erwischen; und deren Art, mit mir zu sprechen, mich spüren lässt, wie zerbrechlich ich bin. Die mich im Heute daran erinnern, dass ich zu den Wackelkandidaten unserer Leistungsgesellschaft gehöre.
Unter den Grenzen meiner Möglichkeiten kann also nicht mal ein Zwerg Limbo tanzen. Dabei denke ich vor allem an Karriere. Ich würde mich fleißig für einen Job aufopfern, bis ich ausbrenne, wie es zum guten Ton gehört — wenn noch etwas zum Verbrennen da wäre; wenn ich einen Sinn darin erkennen könnte, nie Zeit für das zu haben, was mir tatsächlich wichtig ist, und am Ende kaputt zu sein. Glücklich sind die, die in ihrer Arbeit aufgehen. Ich gehe in der Kreativität und als Mutter auf, beides wird mir nicht bezahlt. Wenn ich mit meinen Töchtern zusammen bin, stellt sich mir nie die Frage nach dem Sinn, die mir sonst mit einem Vorschlaghammer den Kopf in Trümmer legt, bei allem, was ich tue. Selbst während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, wozu eigentlich. Wen interessiert’s?
Aber eine Entschuldigung fürs Leben schreibt meine Therapeutin mir immer noch nicht.
„Ihre Disposition spricht Sie von nichts frei. Betrachten Sie sie einfach als Wegweiser. Jeder Einzelne von uns blickt Herausforderungen entgegen. Die Kunst ist, in ihnen Chancen zu sehen.“
„Welche Chance sollte das sein?“
„Es sind unsere unüberwindbar scheinenden Grenzen, die uns eine Ahnung davon geben, wer wir sind und was richtig für uns ist.“
„Wissen dann normale Menschen nicht, wer sie sind?“
„Es gibt keine Menschen, die normaler sind als Sie. Aber es gibt die, die sich über etwas definieren, was gar nicht zu ihnen gehört — ohne es zu hinterfragen. Die danach handeln, was andere tun. Die nur von außen auf sich blicken; und wenn sie allein sind, sind sie völlig verloren. Ohne jede Orientierung.“
„Das bin ich auch.“
„Nein. Ihre Grenzen weisen Sie in eine Richtung, ob sie wollen oder nicht.“
„Sie meinen, weg von allem?“
Oh, oh. Sie verdreht schon wieder die Augen …
„Jeder Ihrer Fasern ist bewusst, wer Sie sind. Das macht Sie weniger flexibel. Weniger anpassungsfähig. Anfällig für Depressionen, wenn Sie Vorgaben folgen müssen, die nicht Ihre eigenen sind. Es macht Sie panisch, dass Ihre Wesensart Sie zu einem Menschen macht, den man mögen kann oder auch nicht. Natürlich, man kann das alles schön auf Negatives herunterbrechen. Oder aber Sie lassen aus Ihrer Persönlichkeit keine Krankheit entstehen.“
„Sondern?“
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Schön geschrieben, das humorige gefällt mir, geht mir nur viel zu oft verloren.
Danke. Ja, das war bisher meine effektivste Strategie. Hilft nicht immer, manchmal überzeug ich mich selbst nicht … aber wenn man es sich zur Gewohnheit macht, wird es irgendwann einfacher, weil der Kopf nicht mehr so oft dazwischengrätscht. Es lebe die List, ha! 😉