Babyschrittgeschwindigkeit

Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit — der wird sie nie erringen. — Kurt Tucholsky

Wenn wir schon die Tabus nicht loswerden, dann zumindest ein paar Gedanken dazu.

Schaue ich mich um, kann ich ungefähr eine psychosomatische Krise entdecken, die heute salonfähig ist, und das ist das Burn-out. Dass uns ein klassisches Erschöpfungssyndrom vergleichsweise wenig von unseren Mitmenschen entfremdet, liegt nicht daran, dass es so verbreitet ist. Es hat mit dem Umstand zu tun, dass auch die, die nicht betroffen sind, verstehen, wie es dazu kommen kann. Jeder kennt das Gefühl, wenn Stress uns zusetzt. Und wer aufgrund seiner Berufstätigkeit unter Burn-out leidet, hat sich das immerhin verdient. Wir leben schließlich in rastlosen Zeiten. Unsere Maximen sind Wachstum und Fortschritt, denen wir alles unterordnen. Und wenn ich unsere sage, meine ich natürlich die Maximen der Wirtschaft, die wir — als hätten wir keine Wahl — als unsere eigenen begreifen. Oder, genauer, nach denen wir handeln, ohne es zu begreifen. Denn wenn wir die Zeit hätten, das, was wir für unveränderlich halten, zu hinterfragen, wäre uns längst klar, dass die Ziele der Wirtschaftslobbys nichts mit uns zu tun haben. Wir spielen in dem Getriebe für sie keine Rolle außer der des braven Arbeiters und Konsumenten. Weil wir aber totaaal froh sind, wenn wir einen Job abkriegen, mit dem wir gut verdienen, und dann, wenn wir gut verdienen, im Alltag keine Zeit fürs Nachdenken bleibt, reiben wir uns wie selbstverständlich für deren Maximen auf — länger, schneller, immer und überall. Weil wir denken, wir tun das für uns. Clever, das muss man den Chefetagen lassen.

Wir scheinen uns auf den Konsens geeinigt zu haben, dass Zeit, die uns gehört, Luxus ist, und auf Luxus gibt es kein Recht. Und die, die sich arbeitsfreie Zeit leisten, schweigen darüber, als hüteten sie ein schmutziges Geheimnis, da sie andernfalls als faul oder privilegiert abgestempelt werden — selbst dann, wenn sie ein Kind betreuen. Ich halte dagegen, dass freie Zeit für eine echte, gelebte Demokratie notwendig ist, damit Stress nicht als Argument dient, warum wir uns nicht informieren und keine Stellung beziehen. Wir brauchen Zeit, uns zu bilden, anderen zuzuhören und uns mit dem, was wir Tag für Tag hinnehmen, auseinanderzusetzen. Das Lernen darf doch nicht mit dem Job, den wir bekommen, zu Ende sein.

Was hat das mit psychischen Erkrankungen zu tun?

Elon Musk schießt Cabrios ins All, und wir werden alle in ihnen auf dem Mars cruisen, bevor es okay ist, zu unseren Grenzen zu stehen. Denn ein Umdenken, das sich nicht nur bestenfalls im Freundeskreis, sondern auch öffentlich bemerkbar macht, braucht — Zeit. Es braucht das hartnäckige, gesamtgesellschaftliche Rütteln an Prioritäten. Ein Besinnen auf unsere Prioritäten. Es braucht einen neuen Rhythmus, ein humanes Tempo. Es braucht eine grundlegende Infragestellung der Art, wie wir leben — und für wen eigentlich. Aber je schneller und geschäftiger wir sein müssen, um unsere materiellen Verlangen zu stillen, desto mehr bleiben unsere seelischen Bedürfnisse auf der Strecke. Und wir denken, das gehört so und dass es doch nichts bringt, sich zu sträuben. Bravo. Unsere Seele ist das Kleinkind, das den eiligen Erwachsenen mit ausgestreckten Armen hinterhertappelt. Es stolpert, es fällt in den Dreck und es bringt sich wieder auf seine Beinchen — aber es holt nie auf.

Fast dreißig Jahre nach meiner ersten depressiven Episode ist es nicht behaglicher geworden, seiner Umwelt einen psychischen Ausnahmezustand zu gestehen. Ja, die Reaktionen sind milder; es ist zu spüren, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft gelernt hat, tolerant zu tun — nur eben nicht für die psychisch Erkrankten, sondern für das eigene Selbstbild. Wir wollen uns als jemand erachten, der woke ist — immerhin. Was ich hingegen noch nicht bemerken kann, ist eine nach innen gerichtete, tatsächliche Auseinandersetzung mit der Thematik, die über die Einstellung Leben-und-leben-Lassen hinausgeht. Ein gedankliches Prüfen, wo die gesellschaftlichen Ursachen liegen könnten, wenn sich die Krankschreibungen häufen; ein Hauch von Selbstreflexion. Wenn ihr andere Erfahrungen gemacht habt, lasst es mich wissen. Ich kann nur von mir reden. Und meiner Erfahrung entspricht, dass sich die Reaktionen in mitleidvollen Blicken erschöpfen, wenn ich von meiner Depression erzähle. Dann stockt die Unterhaltung und ich bereue, dass ich überhaupt etwas gesagt habe. Denn dass sich meinetwegen irgendwer beklemmt fühlt, ist das Letzte, das ich will. Nachfragen ist gut. Aber bitte keine Berührungsangst, keine Handschuhe, die ihr euch in meiner Gegenwart anzieht. Sonst glaube ich, dass es noch schlimmer um mich steht, als ich eigentlich dachte.

Um diese Wand, die sich zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen nach und nach errichtet, zu umgehen, verbergen wir unsere psychische Krankheit hinter einer körperlichen, zu der andere einen Zugang finden. Wer selbst schon in einem kranken Körper gesteckt hat, erwartet von uns nicht, dass wir uns einfach zusammenreißen, und weiß aus eigener Erfahrung, dass Heilung Zeit bedarf. Vielen Menschen fällt es schwer, einem psychischen Leiden mit derselben Geduld zu begegnen. Praktisch ist, dass wir tatsächlich auch körperliche Symptome aufweisen — nur wir wissen genau, dass wir uns setzen müssen, weil uns vor Angst schwindelig ist und nicht, weil uns die Zeit zum Frühstücken gefehlt hat. Oder dass unsere Hände nicht zittern, weil wir unterzuckert sind. Nur ich weiß, dass es nicht der Straßenlärm unter meinem Fenster ist, der mich nachts wachhält. Aber es funktioniert. Darüber können wir reden.

Wir bieten unseren Mitmenschen an, unser Leid verstehen zu können, auf einer Ebene, die für sie nachvollziehbar ist. Damit der Schmerz, wenn sie ihn auch kennen, uns verbindet und nicht trennt. Damit sie nicht unseren kompletten Charakter in Zweifel ziehen. Niemand würde je sagen: „Du, die ist komisch … Die hat Schnupfen!“

Aber so helfen wir nicht, die Entwicklung in den Köpfen voranzutreiben. Wir füttern, was uns kaputt macht.

Ganz besonders hoffe ich, dass Eltern sich die Zeit nehmen, ihr Kind genau anzusehen. Nachzufragen und ihm zuzuhören. Als ich sieben Jahre alt war, habe ich meinen Eltern gesagt, ich sei traurig, weil die anderen Kinder über meine Zahnlücke lachten. Das war nicht gelogen, und besser wusste ich es damals auch nicht. Der Arzt befand, ich sei so still und blass, weil mein Immunsystem schwach sei, und schickte mich für sechs Wochen über siebenhundert Kilometer weit weg von meinen Eltern, als ich acht war. Nordseeluft täte mir gut. Wir schrieben Briefe, aber wir haben nicht einmal miteinander telefoniert. Ich fühlte mich wie ein Hund, den man ausgesetzt hat. Die Erfahrung von Verlassenheit und Ausgrenzung, die ich im Kurheim machen musste, und all die Hänseleien, vor deren Gewalt mich kein elterliches, liebevolles Korrektiv beschützte, haben mein Selbstwertgefühl sechs unendlich lange Wochen mit sandigen Schuhen getreten. Jeden Freitag gab es Frikassee. Beim Gedanken an Frikassee wird mir heute noch schlecht. Aber mein Asthma war weg. Ich habe irgendwann selbst geglaubt, dass ich vorher Asthma hatte.

Zwanzig Jahre später habe ich hier und da beim Kaffee erklärt, dass meine Arbeitssuche ergebnislos blieb, weil es Geisteswissenschaftlerinnen auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wenn sie Mütter und noch gebärfähig sind, umso mehr. Auch das war die Wahrheit. Aber eben nur der Teil davon, den andere verstehen. Und der sie nicht daran zweifeln lässt, ob ich überhaupt genug will.


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